Fast fertig, oder etwa doch nicht?

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Helena

Fast fertig, oder etwa doch nicht?

Beitrag von Helena »

Hallo,

ihr denkt sicherlich, jetzt spinne ich aber ich habe mal eine Frage: Ich denke seit gut 4 Wochen, dass ich fast fertig bin und ich muss sagen, der Unterschied zu vor 4 Wochen und jetzt ist echt eklatant. Und nun möchte ich Ende Juli meinen Erstentwurf abgeben. Das habe ich meinem Mann und meinen Kindern versprochen aber mein Problem ist, ich traue mich schon gar nicht mehr eine Meinung dazu zu haben...

Mein Mann glaubt schon, dass ich das ganz nicht Ernst nehme. Er hat nicht promoviert und seine ursprüngliche Idee war, dass ich im Schaukelstuhl sitzend quasi meine Literaturrecherche mache während zu meinen Füssen die Kinder spielen und ich dann Abends locker, flockig die Diss schreibe. Nach gut 4 Jahren (neben Job und KIndern) merkt er, dass es so nicht funktioniert hat und hat mich auch unterstützt wo er nur konnte aber jetzt möchte er, dass unser "normales" Leben wieder anfängt. Und bis auf die Zusammenfassung ist alles fertig aber ABER... ich entdecke immer wieder konzeptionelle Fehler (nicht dramatisch aber zum Beispiel hing ein Kapital falsch und musste an eine andere Stelle) oder ich habe dann entdeckt, dass meine Hypothesen falsch strukturiert waren usw.

Ich habe momentan das Gefühl, dass ich - jedesmal wenn ich meine Diss zu Händen nehme - immer wieder etwas finde und im Prinzip kenne ich auch die Mängel (also zwei Unterkapitel sind wirklich mager ausgefallen und könnten ruhig mehr Tiefe bekommen). Daher meine Frage: Gibt es einen Punkt wie im Examen an dem man einfach sagen muss: Jetzt reicht es oder habt ihr bis zu einem perfekten Stand gearbeitet? Ist es normal, dass man bis zum Schluss immer noch kämpft oder seid Ihr ruhig in den Hafen gesegelt?


Ich traue meinem eigenen Urteilsvermögen nicht mehr...
ictus

Re: Fast fertig, oder etwa doch nicht?

Beitrag von ictus »

Mein Doktorvater hat immer gesagt: Irgendwann muss jedes Kind mal zur Welt kommen. Und klar, irgendetwas lässt sich immer noch perfektionieren.
Und weil er um diese Gefahren weiß, fordert er dann auch zum Abgeben auf, wenn er den Eindruck bekommt, dass man jetzt etwas Brauchbares hat. Wenn die Anfrage kommt, hat man einfach keine Wahl mehr. Vorher will er aber keine Kapitel o. ä.
algol
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Re: Fast fertig, oder etwa doch nicht?

Beitrag von algol »

Man kommt wahrscheinlich nie zu einem perfekten Schluss. Wenn man alles gestylt hat, sind die ersten Kapitel wieder veraltetet. Man könnte ein Lebenswerk draus machen. Daher muss man irgendwann zum Kompromiss stehen.
Was sagt denn Dein Prof zum aktuellen Stand der Diss?
Helena

Re: Fast fertig, oder etwa doch nicht?

Beitrag von Helena »

Ich habe ihm den letzten Stand der Dissertation nicht bisher nicht gezeigt. Ist bei uns aber auch nicht üblich. Er ist immer offen für Fragen aber irgendwie hatte ich immer den Ehrgeiz es alleine zu schaffen und die Fehler die ich entdecke waren wirklich teilweise zu elementar als dass ich ihm diese hätte zeigen wollen.
bbb

Re: Fast fertig, oder etwa doch nicht? / Pareto Teil 2

Beitrag von bbb »

Hallo Helena,

ich kann Dich gut verstehen:

ich bin auch schon seit Monaten "fast fertig", aber es gäbe noch so viel zu tun.
Meine Erstfassung sollte eigentlich Ende Februar zu meinem Betreuer und nun hat es Mitte Juni (dank einiger Nachtschichten) endlich geklappt.
Dazwischen waren diverse Kinderkrankheiten und andere Dinge die immer wieder quer kamen, wenn ich gerade einen Motivationsschub hatte.. Murphy's Law (oder das Unterbewusstsein, das gegen mich arbeitet?).

Meine Frau ist dadurch sehr frustriert, weil jede Prognose, wie lange etwas dauern würde, immer völlig hinfällig war und weil man mit Kind(ern) zuhause kaum Ruhe hat, etwas zu arbeiten.

Es gibt zwar auch Dinge, die man mal in einer freien Viertelstunde oder halben Stunde machen kann (irgendwas formatieren oder Fleißarbeiten), aber für viele Dinge braucht man Ruhe und Zeit und jemand, der das nicht selbst gemacht hat, kann das vermutlich nur sehr schwer nachvollziehen.

Ein anderer Aspekt ist vermutlich auch, dass man sich irgendwie unterbewusst gar nicht trennen will und immer noch etwas entdeckt, was noch gemacht werden muss oder "muss".

Irgendwann muss man einen Schlussstrich ziehen und das "Baby" loszulassen. Wie schwierig das ist, weißt Du als Mutter ja bestimmt.

Grobe konzeptionelle Fehler sollten dann natürlich nicht mehr drin sein - hasst Du nicht FreundInnen oder KollegInnen, die mal querlesen können (oder auch mehr)?

Manchmal hilft es auch, wenn jemand Fachfremdes es anschaut, weil man durch seine Fragen auch sieht, was noch fehlt.


Ein perfektes Ergebnis wird man vermutlich in endlicher Zeit kaum erreichen, wobei "perfekt" natürlich immer relativ ist und es auch von den Lebensumständen abhängt - gerade mit Kindern ist es schwierig.

Das Thema mit der endlosen Doktorarbeit beschäftigt mich auch schon länger (ich bin bald doppelt so lange "dabei" wie Du). Eine gute Ratgeberin (die selbst zwar keine Diss geschrieben, aber schon mehrere Fachbücher veröffentlicht hat) sagte mir dazu Folgendes:

Die Pareto-Regel ist ja allgemein bekannt: mit 20% der Gesamtaufwandes kann man 80% des Ergebnisses erreichen.
.. es geht aber (angeblich) noch weiter:
95/50: mit weiteren 30% des Gesamtaufwandes erreicht man ein 95%-iges Ergebnis.

-> wer 95% will, muss also schon 1,5 mal mehr machen als für die 80%.

Wer aber noch die letzten 5% will, der erhöht seinen Aufwand extrem, und spätestens da ist die Frage, ob es noch lohnt.

Natürlich ist das nur eine Faustregel, aber ich denke, es ist viel Wahres dran und irgendwann muss man sich fragen, inwiefern der Mehraufwand sich wirklich lohnt.

Ich wünsche Dir viel Erfolg - ich weiß, wie schwierig es bei so einer beruflichen und familiären Mehrfachbelastung (und vielleicht noch einem eingebauten Hang zum Perfektionismus) ist, vorwärts zu kommen.

Ich muss mir immer wieder sagen: "Mut zur Lücke!"

Viele Grüße

BBB
bbb

p. s.

Beitrag von bbb »

noch einen Hinweis hatte ich vergessen:

dass Du die selbstgesteckten Terminziele nicht erreicht hast, belastet ja auch Dich selbst und nicht nur Dein Umfeld.

Hier kann es hilfreich sein, einen "Termin mit Dir selbst" zu machen und mal in Ruhe auf Deine inneren Stimmen zu hören, die Dir sagen "Du schaffst es ja doch nicht!" oder "Du wirst nie fertig!" oder "Du hast bisher noch keinen Termin eingehalten - dann wirst Du es auch diesmal nicht schaffen!"

Meiner Meinung nach ist es wichtig, sich dieser "destruktiven" Stimmen bewusst zu sein und ihnen etwas entgegen zu setzen, zum Beispiel die Erkenntnis, dass man mit der Mehrfachbelastung als Mutter/Vater, Berufstätiger und Doktorand schon sehr viel leisten muss und dass man kein(e) Versager(in) ist, wenn man nicht locker flockig noch den Doktor nebenbei macht.
Und auch der Blick zurück auf das, was man schon erreicht hat (Schule, Studium, ..), als man noch mehr Zeit hatte, kann helfen.

Viele Grüße

BBB
Mathilda

Re: Fast fertig, oder etwa doch nicht?

Beitrag von Mathilda »

Hej,

wollte Dir nur sagen, wie unglaublich gut ich Dich verstehe! Ich hab prinzipiell auch schon ein paar Mal abgegeben :roll: , bin also gerade in derselben Situation.

Leider habe ich keinen ganz tollen Tipp parat, denn ich denke, das ist aus der Ferne schwer zu beantworten - manche Punkte sind sicher unerhebliche Kinkerlitzchen, andere aber auch nicht. Ich frage mich im Moment bei jedem Punkt, der mir irgendwie nicht recht gefällt, ob ich mir vorstellen könnte, das so zu veröffentlichen oder nicht. Ob das nur mein überreiztes Doktoranden-Endspurt-Hirn ist, was mir einen Streich spielt, oder ob was dran ist. Im Idealfall kann man jemanden mit etwas mehr Distanz fragen, aber manche Dinge muss man natürlich auch selbst entscheiden. Ich gestehe, konzeptionelle Dinge habe ich bei mir auch gefunden, insb. in einem Kapitel. Da bin ich gerade dran, denn ich will es so definitiv nicht einreichen/veröffentlichen. Abstriche habe ich bisher bei Kleinkram gemacht - ok, dann sind eben ein paar Linien in Tabellen nicht hundertprozentig ausgerichtet, das merkt eh niemand.

Wie gesagt - kann Dir auch keinen super Tipp geben, dazu bin ich zu sehr in genau dieser Situation gefangen, aber ich fühle mit Dir :blume:
Geht vielleicht in die falsche Richtung, aber ganz ehrlich - ich möchte nicht hinterher sagen müssen "ich hätt es besser machen können, aber ich hatte keine Lust mehr" - nee. Denke mir, dass sowieso genug daran zu kritteln ist, aber ich möchte die Version einreichen, die meine persönlich beste ist. Vielleicht die falsche Einstellung, sicher nicht die pragmatischste, aber eben meine :wink:

Alles Gute für den Endspurt!
Mathilda, die mal eben in ihren Ticker schielt :roll:
Dr. Natalie Struve

Re: Fast fertig, oder etwa doch nicht?

Beitrag von Dr. Natalie Struve »

Wie fast immer gilt es die goldene Mitte zu finden: zwischen der Einsicht, daß die Arbeit in der Tat nie perfekt wird, egal wie oft Du was verbesserst, und neuen Erkenntnissen, die vielleicht erst durch das geistige "Loslassen" kommen und noch eingearbeitet werden sollten... Dabei solltest Du Dir vor Augen führen: Du kannst auch später noch was zum Thema veröffentlichen, dann eben als separaten Beitrag. Das ist übrigens ganz und gar nicht schädlich für die wissenschaftliche Reputation! :wink:

Was Deine persönliche Situation angeht, werdet Ihr Euch wohl auf einen für beide Seiten tragfähigen Kompromiß einigen müssen, sprich: Dir ein bißchen (!) zusätzliche Zeit einräumen, falls sich eine weitere Bearbeitung als notwendig erweist (s. o.); ihm einen verbindlichen Schlußtermin bieten.

Und auch wenn Du die ganze Arbeit nicht vorweg Deinem Doktorvater zeigen willst (warum ist das eigentlich nicht üblich bei Euch?), so solltest Du mit ihm wenigstens besprechen, welche Bedenken Dir jetzt kommen und inwiefern Du darauf eingehen solltest. Hast Du schon von kritischen, kompetenten Leuten alles (!) lesen lassen? Das ist unbedingt erforderlich, bevor Du eine Endfassung baust; alles andere ist Feigheit vor dem Feind und im Zweifel reichlich kontraproduktiv. Vielleicht klären sich dadurch auch Deine Fragen...
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