Komme mit Lesepensum nicht zurecht.

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Taoyuanming

Komme mit Lesepensum nicht zurecht.

Beitrag von Taoyuanming »

Hallo zusammen,

ich bin momentan im ersten Jahr meiner Promotion (Themenbereich Geschichtswissenschaft) und - wie der Titel des Threads schon sagt - komme ich momentan mit dem Pensum der zu lesenden Literatur schlichtweg nicht zurecht. Ich hoffe, dass meine Frage nicht zu simpel ist, gerade weil sich hier im Forum wahrscheinlich vor allem Leute aufhalten, die sehr erfahren im wissenschaftlichen Arbeiten sind. Allerdings handelt es sich ja hier um ein Forum zu Thema Promotion und da dachte ich, dass ich ja hier mal um Rat fragen könnte.

Ich selbst bin direkt vom Bachelor in die Promotion gegangen. Des Weiteren werde ich durch ein Promotionsstipendium unterstützt. Die finanzielle Grundlage zum Promovieren ist also auch da. Nur wie gesagt fällt es mir teilweise wirklich schwer die sich ansammelnde Literatur zu bewältigen. Ich war nie ein besonders schneller Leser. Da mir das wissenschaftliche Arbeiten allerdings enorm Spaß macht und gerade das Nachdenken und Schreiben über wissenschaftliche Fragestellungen große Freude bereitet war es für mich eine natürliche Entscheidung zu promovieren und da habe ich mich auch von meinem geringen Lesetempo nicht abschrecken lassen wollen. Nur sehe ich so langsam, dass meine reading list immer länger wird, ich aber pro Tag nur vergleichsweise wenig Lesestoff bewältige und ich wenn ich richtig lese und nicht nur überfliege pro Tag nur auf etwa 100 Seiten schaffe. Das Problem ist nicht nur generell meine langsame Lesegeschwindigkeit, sondern auch das Problem, dass ich mich oft nur über kurze Strecken aufs Lesen konzentrieren kann und mich dann in Gedanken über das Gelesene verliere. Das interessante ist, dass ich bei der Arbeit mit Quellen, die ja meist einzelne kurz Texte sind, dieses Problem nicht so stark habe und z.B. im Archiv über längere Zeit konzentriert arbeiten kann (meine Lesegeschwindigkeit ist allerdings trotzdem relativ langsam).

Ich habe natürlich schon versucht mich zu erkundigen was man denn da machen könnte, aber da stößt man meist nur auf die ganze Thematik des Speed Readings. Allerdings denke ich mir, dass es dabei doch eher ums Überfliegen geht und nicht darum komplizierte wissenschaftliche Texte auch wirklich zu verstehen.

Jedenfalls bin ich momentan etwas am verzweifeln daran was ich denn tun könnte um meine Lesegeschwindigkeit zu erhöhren, gerade im Hinblick darauf, dass ich nach meiner Promotion eine wissenschaftliche Laufbahn anstrebe. Deshalb wollte ich hier im Forum mal um Rat fragen. Vielleicht hat hier ja jemand einen guten Tipp für mich.

Vielen Dank!
Cybarb
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Re: Komme mit Lesepensum nicht zurecht.

Beitrag von Cybarb »

Hallo,

ich finde, dass auch 100 Seiten viel sein können, weil es davon abhängt, welches Medium du gerade liest. 100 Seiten an Aufsätzen kann zum Beispiel recht viel sein, wenn man annimmt, dass jeder Aufsatz 20 Seiten hat. Dann liest du am Tag 5 Aufsätze - warum denn nicht? Wenn du dann noch anständig damit umgehst, kannst du für einen Tag verdammt viel Fortschritt verbuchen. Wenn es sich hingegen um einen einzelnen Wälzer handelt, hast du vielleicht nicht so viel Fortschritt, und das ganze Vorhaben scheint sich immer mehr in die Länge zu ziehen.

Zum Speedreading: Du solltest den Ansatz nicht ganz verwerfen, weil er dir schon dabei helfen kann, die Literatur erst einmal zu sichten. Oft bemerkst du ja schon beim Überfliegen (oder beim Lesen von Abstracts), ob du etwas überhaupt brauchst oder nicht. Dabei kann das Speedreading eine enorme Zeitersparnis bieten. Wirklich konzentriert solltest du ja nur das lesen, was du auch tatsächlich brauchst (oder das, worin du dich einfach mal zum Spaß verlierst - soll es auch geben :wink: ).

Gruß
Cyb
Taoyuanming

Re: Komme mit Lesepensum nicht zurecht.

Beitrag von Taoyuanming »

Danke für die Antwort!

Ja, also bei mir geht es eher um längere Bücher. Bei Artikeln schaffe ich vielleicht 2-3 am Tag, was auch Ok ist denke ich. Nur wenn es an längere Monographien geht, dann brauche ich ewig um die durchzukriegen. Zwar sagt man immer, dass man nur das lesen soll was relevant für das eigene Thema ist. Aber wenn es sich beispielsweise um Literatur aus dem unmittelbaren Themenbereich meiner Diss handelt, dann muss ich ja fast schon alles (oder das meiste) lesen um meine eigenen Fragstellungen in meiner Diss abzugrenzen und zu verfeinern. Deshalb auch meine Zweifel am Speedreading. Habe halt beim Überfliegen komplizierterer Texte immer die Angst doch was zu überlesen. Ansonsten ist Speedreading natürlich schon sehr hilfreich.

Aber trotzdem ist es gut zu wissen, dass 100 Seiten vielleicht doch nicht so wenig sind. Bei dem anderen Doktoranden kommt es mir immer so vor als verschlüngen die jeden Tag mehrere Bücher.
deliliah

Re: Komme mit Lesepensum nicht zurecht.

Beitrag von deliliah »

So viel Literatur, die genau zu deinem Thema passen, dürfte es aber nicht geben (sonst ist das Thema schon richtig abgegrast).

Ich bin auch in Geschichte am Promovieren und mache folgendes:
Die 3-4 Hauptbücher zu meinem Thema habe ich sorgsam gelesen.
Die x Aufsätze habe ich z.T. überflogen, da man hier sehr gut viele Teile überspringen kann (Methodik z.B. brauchst du nicht jedes Mal zu lesen oder den historischen Hintergrund)
Bei Monographien schaue ich immer erst in das Lesezeichen, dann lese ich einmal die Einleitung mit der Fragestellung. Dann blättere ich die mir interessanten Kapitel kurz durch und halte fest, ob ich es überhaupt ganz lesen muss, oder ob einzelne Abschnitte nicht auch ausreichen.

Es ist sehr wichtig, dass du dich nicht in der Literatur verlierst.

Übrigens die anderen Doktoren lesen auch nicht alles. Das mögen die vielleicht nach außen hin so tun, aber in Wirklichkeit scannen die auch nur. Ich hatte mal eine Kollegin, die las auch alles von vorne bis hinten und war natürlich total verzweifelt ob der Menge, die sie noch vor mir hatte. Sie beneidete mich um mein Lesetempo, was ich für relativ durchschnittlich halte. Als ihr erklärte, dass ich das meiste nur überfliege und erst dann entscheide, ob ich tiefer einsteige, war sie baff. Ob sie allerdings meinen Rat ebenfalls erstmal zu überfliegen angenommen hat, weiß ich nicht.
Elbfroggi
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Re: Komme mit Lesepensum nicht zurecht.

Beitrag von Elbfroggi »

Hallo Taoyuanming,
vielleicht ist wirklich nicht dein Lesetempo das Problem, sondern dein Anspruch, wirklich _alles_ von A bis Z zu lesen. Hab ruhig den Mut, zu beurteilen, was bzw. welche Teile wirklich relevant und wichtig für dich sind.
Zuletzt geändert von Elbfroggi am 01.11.2013, 09:22, insgesamt 1-mal geändert.
Rosa

Re: Komme mit Lesepensum nicht zurecht.

Beitrag von Rosa »

Hallo Taoyuanming,

hast Du schon Lösungen gefunden? Falls Du noch nicht durch bist damit, hier mein Tipp aus meinen Erfahrungen: Versuche Deine Literaturliste (= derzeit Dein vermeintliches Lesepensum) zunächst schriftlich nach und nach zu kommentieren. Also schreibe zu jedem Aufsatz/Buch fünf bis zehn Sätze auf, was das für eine Literatur ist: Zu welchem spezifischen Unterthema, aus welcher Perspektive von wem verfasst, warum ev. für Dein Thema relevant und wenn ja für welches Kapitel, welche Theorie/welcher Ansatz wird vom Autor zugrunde gelegt, was ist sein Anliegen? Und falls Du schon genauer gelesen hast: Was sind seine Kernaussagen?

Du wirst sehen, dass Du eine Monografie nicht ganz lesen musst, um diese Angaben zu notieren. Und doch ergibt sich ein klarer Blick auf die Art und Qualität eines Forschungsbeitrages bereits aus der Einleitung und / oder bei Aufsätzen: Aus einer zügigigen Lektüre.

Es ist ein wesentlicher Teil Deiner Leistung als Doktorand, diese Art der Einschätzung/Beurteilung der Forschungsliteratur zu Deinem Thema zu erbringen. Es ist also keine Zeitverschwendung, über Literatur zu brüten, aber das Ziel dabei ist, diese Literatur in einen Zusammenhang mit Deinem Forschungsvorhaben zu bringen und von dort ausgehend ihre Relevanz beurteilen zu lernen.

Dagegen ist es nicht Deine Aufgabe, alles bis zum letzten Satz gelesen und vielleicht sogar im Kopf abrufbar zu haben (nur Kerntexte, auf die Du Dich später in Deiner Arbeit ausführlich beziehst, kennst Du am Ende sehr genau).

Die Kunst besteht darin, in der Auseinandersetzung mit der Literatur diese nach und nach zu überblicken und parallel das eigene Forschungsvorhaben immer genauer zu fassen. Dann ist die Anfangsphase gewinnbringend genutzt (das erkennt man meist erst im Rückblick, es fühlt sich eher wie Stochern im Nebel an).

Die Literaturkommentare in Deiner Datenbank oder in Deiner Literaturliste sind zudem hilfreiches Arbeitsmittel, um einen Überblick zum Forschungsstand ausformulieren zu können (wie hat sich die Sicht auf ein bestimmtes Thema seit 1950 in der Forschung verändert? Welche Forschungsarbeiten waren wegweisend? Wann war Funkstille? Welche neuen Ansätze haben das Forschungsfeld wieder neu belebt? Welche Ansätze sind besonders vielversprechend, wurden aber nicht rezipiert? Welche Arbeiten haben eine besondere Wirkung entfaltet?).

Dieser Literatursichtungs- und Kommentierungsprozess ist übrigens nie vollständig abgeschlossen. Bei mir war es besonders intensiv während der Schreibphase (erstes Drittel, da fand ich gefühlt täglich drei neue wichtige Monografien...). Später lichtet es sich irgendwann, aber man kann auch später noch entscheidende Literatur finden, die man zu Anfang nicht auf dem Schirm hatte, dass dieser Aspekt eine Rolle spielen würde.

Viel Erfolg,
Rosa
Taoyuanming

Re: Komme mit Lesepensum nicht zurecht.

Beitrag von Taoyuanming »

Wirklich vielen Dank für die vielen Rückmeldungen und sorry für die späte Antwort. Die ganzen Ratschläge haben mir wirklich schon sehr geholfen die Literatur-Lektüre mal aus einer anderen Sicht zu sehen. Auch vielen Dank an Rosa für die sehr ausführliche Antwort. Ich muss gestehen, dass das ich noch kein gutes System für das Kommentieren der Literatur habe, obwohl das schon länger auf meiner To-Do-List steht. Anfangs habe ich, wie früher immer, viel zu viele Notizen zu allem gemacht, was ich gelesen habe. Deshalb muss ich jetzt irgendwie versuchen immer nur das wichtigste eines jeden Buches/Artikels aufzuschreiben und diese Notizen dann auch gut und systematisch zu ordnen.
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