Probleme beim ethnographischen Arbeiten

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Blasius

Probleme beim ethnographischen Arbeiten

Beitrag von Blasius »

Verehrtes Forum,

nun möchte ich einfach mal eine Problemstellung, die sich aktuell im Rahmen des Ergebnisteils meiner Dissertation ergibt, formulieren. Vielleicht verschafft allein die Niederschrift schon ein Mindestmaß an affektiver Beruhigung.

Kurz, mein Unterfangen lässt sich im methodischen Dunstkreis der sehr freien Feldforschung bzw. unstandardisierten teilnehmenden Beobachtung verorten. Methodisch habe ich mich dabei an den Vorgaben von Autoren wie Geertz, Girtler und Breuer orientiert, inklusive entsprechender Methodenschulungen, ethnographischer Fallsupervision usw. ..

Dabei habe ich konkret etwa ein halbes Jahr lang als Praktikant professionelle Akteure der Jugendhilfe unter einer, wie es solchen Vorhaben zu eigen ist, sehr weiten Fragestellung, begleitet. Da es sich um ein recht adressatensensibles Feld handelte (Klienten in gravierenden Unterversorgungslagen wie es so schön heißt), wo es schon sehr schwer war eine Forschungsgenehmigung zu erhalten, war es mir in nur sehr begrenztem Maße möglich direkte Feldnotizen zu fabrizieren, geschweige denn irgendwas zu videographieren. Das meiste sind auf unterschiedliche Weise erstellte Gedächtnisprotokolle direkt nach den Begleitungen, aber auch einige aufgezeichnete Gespräche.
Gemeinsam erarbeitetes Ziel war es nun auf der Basis des Datenmaterials ethnographische deskriptiv-analysierende Fallbeschreibungen zu verfertigen, die aber so der explizite Wunsch einer gewissen illustrativen Anschaulichkeit nicht entbehren sollen, sowie zunächst nicht intendieren unbedingt einen Schwerpunkt auf Höhenflüge ins hohe Abstraktionsuniversum sozialwissenschaftlicher Kunst zu legen um bestimmte Problemlagen eines bestimmten Klientenkreises aus differenzperspektiver Perspektive (Klienten, Profis) praxisorientiert zu beschreiben (Vorwurf der Sozialreportage bzw. a la Wallraff bzw. der Ethnofiction ist dabei wohl immer mitgekauft).

Nun sitze ich bereits ein halbes Jahr an der, wie ich oft finde, eher schriftstellerischen Aufgabe diese „Geschichten“ zu verfassen, stets konkomitiert von Skrupeln auf das Proprium des Feldaufenthaltes, nämlich die Protokolle zurückzugreifen und lieber auf die eigentlich eher quantitativ nachrangigen wenigen Interviewtranskripte zurückzugreifen. Nun, das ist wohl eher ein erkenntnistheoretisches Problem, dessen was als akzeptierte Datengrundlage (mehrfache Filterung, Beobachtungen) usw. gilt. In den Worten Geertz, handelt es sich in ethnographischen Beschreibungen „um Interpretationen und obendrein nicht solche zweiter und dritter Ordnung (…) …..(1983: 23).


Nun abgesehen von solchen typischen Problemen, die ethnographischen Arbeiten oft anhaften ,ist das derzeitige Hauptproblem zu entscheiden, welche theoretischen Anknüpfungslinien sich anbieten. Wenn ich mir den bisherigen Stand der Auswertung und die entstanden Beschreibungen so anschaue bin ich erschlagen von den infinit scheinenden theoretischen Anknüpfungslinien, gerade wenn ich das Abstraktionsniveau nicht allzu hoch treiben will bzw. soll. Ich habe derzeit das Gefühl mit dem Versuch ethnographisch zu arbeiten (vorher hauptsächlich Interviewstudien mit klar fokussierter Fragestellung) meine persönliche Büchse der Pandora geöffnet zu habe. In meinen Aufzeichnungen entdecke ich Anknüpfungslinien für das ganze interdisziplinäre sozialwissenschaftliche, pädagogische, psychiatrisch-psychotherapeutische Tableau.
Da mir aber ein simples Zusammenstellen der Protokolle bzw. ein geschicktes Arrangieren zu einem illustrativen Erlebnisbericht zu trivial dünken, was nach Ansicht einiger durchaus lege artis ist und ich auch nicht kritisieren möchte (ich habe ein paar Kernsequenzen auch selektiv in der Gruppe hermeneutisch analyisiert), ist es mir ein Anliegen bestimmte Beobachtungen mit theoretischen Bezügen in Verbindung zu bringen, weil sonst einfach zu viel „unbeachtet unter den Tisch fallen würde“bzw. zu unreflektiert im Bericht auftaucht. Gleichsam kann ich nicht jede Beobachtung theoretisieren. Ich versuche mich mittlerweile zu zwingen die Protokolle nicht zum x-ten Male durchzugehen, da ich genau weiß, dass dann das so eben gewähnte Licht im Dunkel, schnell wieder erlischt und ich dann dazu neige defätistisch vor der amorphen Komplexität einzuknicken und ich im Gefolge dieser Empfindungen handlungsunfähig werde, gefolgt von den üblichen Auswirkungen zu prokastinieren.

Drei bis vier mir wesentlich erscheinenden, theoretische Anknüpfungspunkte habe ich bisher in Kapiteln bzw. Subkapiteln ausgearbeitet und auf meine Empirie bezogen. Allerdings erscheint mir das alles über die Maßen „kontingent“, da sich bei erneuten Analysedurchgängen immer neue Anknüpfungpunkte ergeben. Gleichsam möchte ich aus meiner Dissphase keine „never ending story“ werden lassen und meiner pragmatischen Betreuung keine 1000 Seiten Schrift auf den Tisch legen. Gewünscht und üblich sind so etwa 200-300 Seiten (wenn das mal hinhaut).

Sorry für die recht hemdsärmlige Problemdefintion, aber das war jetzt mal direkt aus der Hüfte geschossen und nicht Korrektur gelesen.

Sollte jemand Erfahrung haben mit ähnlich gelagerten Problematisierungslinien bzw. Verdichtungsproblemen bin ich für eine Rückmeldung sehr dankbar…
Vielen Dank fürs Durchlesen und beste Grüße
Blasius
Daishima

Re: Probleme beim ethnographischen Arbeiten

Beitrag von Daishima »

Hallo Blasius, aus dreierlei Gründen hätte ich mich angesprochen gefühlt, Dir zu antworten:

- ich arbeite neben meiner Promotion als Leiter einer Einrichtung der Jugendhilfe
- erarbeite ebenfalls eine stark ethnografisch orientierte Dissertation
- stand vor der Aufgabe, ca. 1000 Seiten Feldmemos, Interviews und Beobachtungsprotokolle auf 300 Seiten zu konzentrieren

Leider hat mich Deine "hemdsärmeligen" Verwendung von "Soziologensprech" so sehr eingeschüchtert, dass ich nicht glaube, dass Dir meine Erfahrungen weiterhelfen können. Wenn ich schon nachschlagen muss, was "Proprium" bedeutet...

Aber schnell aus der Hüfte geschossen:
- Kolloquium war immer eine große Hilfe sich nicht zu verzetteln.
- U.U. Grounded Theory verwenden, um eine eigene "begründete Theorie" aus dem Feldmaterial zu generieren - hilft dann auch, den Weg von einer überlangen Feldbeschreibung zu einer theoriegeleiteten Arbeit zu finden.
- sich auf ein wirklich sehr kleines, aber prägnantes Feldphänomen konzentrieren - daran dann das Besondere (proprium ROFL) der eigenen Fragestellung für das Gesamtfeld darlegen.

Beste Grüße und nix für ungut für die flapsigen Anfangsworte;-)

Daishima
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