Lesepensum

Jahresarchiv
Anne123
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Lesepensum

Beitrag von Anne123 »

Hallo,
ich bin gerade leicht verzweifelt...vezettel mich im Lesepensum. Ich meine, hier im Forum mal gelesen zu haben, dass 3-5 Standardwerke zu jedem Aspekt vollkommen ausreichen. Meine to do-Liste bewegt sich derzeit im Bereich > 500, da ich ja nicht die Fußnoten der Autoren einfach übernehmen, sondern die entsprechenden Verweise selbst recherchieren lesen und bewerten muss.. Oder habt Ihr auch um die 500 Aufsätze/Monographien gelesen? Vielleicht will ich es einfach gerade nicht wahrhaben, dass mir das bevorsteht:-))

Gruß
Anne123
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Meggy

Re: Lesepensum

Beitrag von Meggy »

Hallo Anne,

immer schwierig das pauschal zu beantworten, weil das wohl nicht zuletzt auf Fachrichtung und konkretes Thema ankommt, wieviel Grundlagen/Vorarbeiten etc gibt es schon oder ist es ein sehr neuer Aspekt/Richtung etc...
Meine Lit-Liste umfasst momentan >900 Eintragungen (und es werden sicher noch mehr :stressed: ), was mir im Gespräch mit Kollegen immer wieder erstaunte Blicke und Kopfschütteln einbringt (Informatik). Ich muss aber auch sagen: zum einen habe ich ein ziemlich interdisziplinären Aspekt, dh schonmal nicht nur Grundlagen aus EINEM Fach sondern zu mehreren groben Richtungen. Weiter kommt dazu dass es auch SEHR viele Aufsätze / Journal Paper sind (also 900 Bücher wollte ich auch nicht lesen :wink: ) und ich bei manchen auch nicht das komplette Paper von a-z ins kleinste Detail auseinandernehme, sondern halt immer nur das jeweilig relevante.
Abschließend bleibt noch, dass ich sicher diese Liste nicht von Anfang an so hatte, sondern sich das im Laufe der Zeit einfach so "angehäuft" hat, je nachdem mit welchem Teilaspekt ich gerade arbeitete.
Ich würde versuchen, mir da gar nicht so viel Kopf zu machen über "zu wenig" oder "zu viel" sondern einfach versuchen, das wichtigste (DIE Grundlagen, DIE Standards) zu identifizieren und von da aus dann zu verzweigen (ins Detail gehen) und sehen, was so im Verlauf der Diss zusammen kommt :blume:
Blasius

Re: Lesepensum

Beitrag von Blasius »

Liebe Anne,

also ich würde mir dann den Druck raus nehmen. Sicherlich varriiert das Lesepensum je nach eigenem Anspruch und den Anforderungen der Betreuung. Ich habe im Wissenschaftsbetrieb die Erfahrung gemacht, dass vieles wirklich "Show" ist und die Forschungspraxis, gerade in vielen parallel laufenden Drittmittelprojekten, da im Endeffekt eine eher andere Sprache spricht, weil es sonst schnell zur Überforderung kommt, vor allem unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten.
Mittlerweile bin ich da ziemlich desillusioniert, was man da so alles mitbekommt. Ich gehe mittlerweile so vor, dass ich mir zu einem Thema ein möglichst aktuelles Review besorge, dort die relevanten Studien recherchiere und diese dann durcharbeite, zusammenfasse und bewerte, alles in einem festen vorgegebenen Zeitfenster.
Die Lehrbuchutopie sämtliche thematisch relevante Literatur ad extenso duchzuacken wurde mir, als ursprünglichem Idealisten, recht schnell ausgetrieben. Zumal ich die Festellung machen musste, mit zunehmender Profundität meiner thematischen Expertise, dass man vielfach mit "altem Wein in neuen Schläuchen" konfrontiert wird und sich tendenziös formuliert, der eine beim anderen großzügig bedient.
Mich verfolgt auch regelmäßig ein schlechtes Gewissen, wenn ich nach dem Schnellballprinzip arbeite
(wenns mal schnell gehen muss) und dann die Literatur nehme, die über den Hochschulzugang unmittelbar zugänglich ist. Man lernt irgendwann wichtige von weniger wichtigen Publikationen zu unterscheiden. Bei der heutigen Flut an Publikationen kann man leider eh nicht alles lesen. Und manchmal kann man entsprechende Stellen auch unter google. books sichten.
Also zumindest für den wissenschaftlichen Alltag und eine solide Durchschnittsdiss sollte das genügen, allerdings räume ich ein, dass die "Usancen" nicht nur interdisziplinär sondern vor allem auch lehrstuhlspezifisch erheblich divergieren.
Das heißt nicht, dass ich als Apologet einer saloppen Arbeitsweise auftreten möchte, sondern diese Erfahrungen meinen Arbeitsalltag prägen. Auch Wissenschaft hat "informelle Arbeitsprakiken" und Abkürzungsstrategien, die eingesetzt werden....Meine Ambivalenz spannt sich hier ebenfalls zwischen eigenem Idealismus und erlebter Praxis auf. Wo man sich auf diesem Kontinuum verortet muss man mit seinem Gewissen und den institutseigenen Gepflogenheiten vereinbaren.
Schau einfach was bei euch so üblich ist und versuch "Hahnenkampf" und wirkliche Praxis zu blicken. Oft ist das ganze mehr Schauspiel alles andere. Sorry, aber das ist meine bisherige, wenn auch anekdotische Evidenz.
Viel Erfolg und ein bißchen ruhig Blut
Wissbegierige

Re: Lesepensum

Beitrag von Wissbegierige »

...also schöner als Blasius kann man es ja wohl nicht sagen!
Und recht hat er auch noch.

You made my day!
Anne123
Beiträge: 173
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Re: Lesepensum

Beitrag von Anne123 »

Vielen Dank Euch allen, besonders an Blasius.:-) Ich sehe es im Grunde genauso, aber als mein Zweitbetreuer mir kürzlich einen von ihm verfassten Sammelband in die Hand drückte, in dem er den Stand der Forschung bis zum 16. Jahrhundert nicht nur zitierte, sondern auch noch in den Fußnoten wortreich kommentierte, wurde mir etwas anders.:-) Alleine 500 Titel nur zu einem einzigen Aspekt der Arbeit für den Theorieteil (arbeite empirisch) scheinen mir einfach zu viel.
Allerdings stellt sich mir ohnehin die Frage, wie viele Aufsätze man in einer Dissertation verarbeitet haben sollte. In meiner Arbeit könnte ich mit ca. 200 Aufsätzen auskommen, aber wenn ich 60 Seiten lange Lit.verzeichnisse anderer Arbeiten sehe, zweifle ich wieder...
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Meggy

Re: Lesepensum

Beitrag von Meggy »

Also um nochmal einen schönen Vergleich aufzugreifen (unabhängig davon dass ich den Vorrednern auch zustimme): es heißt ja immer, die Diss ist "wie Dein Baby". Und Babys/Kleinkinder soll man ja auch KEINESFALLS untereinander vergleichen da sich jeder anders entwickelt etc. Ebenso halte ich nicht viel von Vergleichen a la "meine Kollegen haben auch alle 500+ Aufsätze..." In die Diss sollten exakt die Stellen, die fürs Verständnis oder aber für die korrekte Zitation in der JEWEILIGEN Arbeit relevant sind - nicht mehr, und auch nicht weniger. Daher können (und sollten!) sich m.E. auch Diss'en derselben Fächer/Bereiche hier durchaus unterscheiden :wink:
Unelma

Re: Lesepensum

Beitrag von Unelma »

Meine Literaturliste hat eine vergleichbare Länge und es hat schon relativ viel Zeit gekostet, alles zu durchforsten, allerdings lernt man mit der Zeit, Prioritäten zu setzen und erkennt unwichtige oder nur halbwegs relevante Publikationen sehr schnell. Es ist wichtig, je nach Relevanz unterschiedliche Lesestrategien anzuwenden - also ruhig mal selektiv oder kursorisch lesen, wenn du eine bestimmte Information suchst (z.B. nur einen konkreten Aspekt, der mal in einer Fußnote erwähnt wurde) bzw. die wichtigsten Aussagen eines Textes erfassen möchtest (z.B. um festzustellen, ob er überhaupt relevant ist). Viel Erfolg!
Anne123
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Re: Lesepensum

Beitrag von Anne123 »

Wieviel Zeit habt Ihr denn insgesamt nur fürs Lesen gebraucht, sofern Ihr "Vollzeit" promoviert habt?

@Unelma: Auf welche Zahl beziehst Du Dich? 250, 500 oder 900? :mrgreen:
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Meggy

Re: Lesepensum

Beitrag von Meggy »

@Anne
kann ich leider gar nicht schätzen - zum einen hab ich nur die ersten Monate "Vollzeit promoviert" bevor ich in meiner Uni-Stelle "nebenbei" versumpft bin :wink: zum anderen habe ich nie "nur" gelesen, also kann das gar nicht annähernd festmachen, auf wieviel "reine Lesezeit" ich da so gekommen bin...
Garion

Re: Lesepensum

Beitrag von Garion »

Anne123 hat geschrieben:Hallo,
ich bin gerade leicht verzweifelt...vezettel mich im Lesepensum. Ich meine, hier im Forum mal gelesen zu haben, dass 3-5 Standardwerke zu jedem Aspekt vollkommen ausreichen. Meine to do-Liste bewegt sich derzeit im Bereich > 500, da ich ja nicht die Fußnoten der Autoren einfach übernehmen, sondern die entsprechenden Verweise selbst recherchieren lesen und bewerten muss.. Oder habt Ihr auch um die 500 Aufsätze/Monographien gelesen? Vielleicht will ich es einfach gerade nicht wahrhaben, dass mir das bevorsteht:-))

Gruß
Anne123
Hallo Anne,

ich habe auch keine Lösung, aber genau dasselbe Problem, wie ich ja hier auch schon mal schrieb :blume: ! Ich habe wie verrückt gelesen und exzerpiert, so daß sich über 2600 (!) Wissenselemente in Citavi angesammelt hatten. Meine Datenbank umfaßt mittlerweile über 1000 Titel, von denen ich bestimmt die Hälfte auch schon zum Teil ausgewertet habe. Allein das Ordnen und Sortieren der Wissenelemente vor dem Schreiben dauert z.B. Tage für jedes Kapitel. Auf meiner To-Do-Liste stehen immer noch fast 100 Texte. :cry: Kürzlich ist dann mein Panik-Gefühl (Hilfe, mir läuft die Zeit weg) so stark geworden, daß ich endlich mit dem Schreiben angegefangen habe und erstmal meine Liste ignoriere, obwohl ich zu einigen Teil-Kapiteln wirklich noch was lesen muß. Zum Panikgefühl trägt auch bei, daß ich die Auswertung meiner Interviews noch vor mir habe. Am meisten belastet mich aber der Lektüreteil, weil da noch einige Mammut-Kapitel auf mich zukommen. Ich habe hochgerechnet, daß allein mein Lektüreteil schon 200 Seiten haben wird :stressed: Ich wollte mein Thema, das ich eigentlich gut eingegrenzt habe möglichst umfassend aufrollen und habe mich dabei wohl übernommen. :cry:

Ich habe, glaube ich, auch so was wie eine Art "Vollständigkeitszwang", weil ich denke, daß ich wirklich alle Studien zu einem Aspekt meines Themas recherchiert haben muß. Mein Professor hat mir zwar geraten, systematisch zu recherchieren, aber dann sehr selektiv auszuwerten. Das finde ich leichter gesagt als getan, weil ich schlecht Ergebnisse unter den Tisch fallen lassen kann, gerade wenn sie widersprüchlich sind, ohne daß ich das Gefühl habe, unsystematisch vorgegangen zu sein. Günter Mey hat mal auf einem Workshop gesagt, daß man dann unzufrieden sei mit seiner Arbeit, wenn man eben dieses Gefühl habe.

Ich kann also auch nur sagen, daß ich Dein Problem verstehe und es selbst sehr schwierig finde, die Arbeit einzugrenzen, ohne willkürlich vorzugehen. Ich habe es leider bislang auch nicht geschafft, mal Ballast zur Befreiuung abzuwerfen, weil mich dann immer der Gedanke stoppt, daß ich doch keine Lesefrüchte, die ich schon habe, unter den Tisch fallen lassen kann.
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