Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

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SpecialGuest

Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

Beitrag von SpecialGuest »

Hi,

ich fange gerade mit meiner Dissertation in Medienwissenschaften an. Ich schreibe über ein relativ neues Phänomen der Internetnutzung, welches ich in meinem sozialen Umfeld sehr häufig beobachten kann, über das aber noch gar nicht geforscht wurde.

Gerade versuche ich in der Einleitung zu beschreiben, welches Phänomen ich eigentlichen erforschen möchte - ein Phänomen, das ich aus meinem Alltag kenne. Aber wie kann ich das schreiben ohne "ich" zu verwenden. So .. ?

"Es lässt sich beobachten ... "
"Es kann beobachtet werden ... "
"In den letzten Jahren hat sich folgendes Phänomen herausgebildet ... "

Für Tipps und Anregungen bin ich dankbar,
Matthias
DoneXY

Re: Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

Beitrag von DoneXY »

SpecialGuest hat geschrieben:Gerade versuche ich in der Einleitung zu beschreiben, welches Phänomen ich eigentlichen erforschen möchte - ein Phänomen, das ich aus meinem Alltag kenne.
Wenn Du das Phänomen noch nicht erforscht hast, kannst Du auch keine Einleitung schreiben. Diese soll ja einen Text einleiten, den Du kennen musst, um sinnvoll einleitende Worte schreiben zu können.
SpecialGuest hat geschrieben: "Es lässt sich beobachten ... "
"Es kann beobachtet werden ... "
"In den letzten Jahren hat sich folgendes Phänomen herausgebildet ... "
Sei mir nicht böse, doch finde ich diese Frage 'erschreckend' grundlegend.

Grob: Die ersten beiden Varianten gehen natürlich, doch 'beoabchten' lässt sich so Vieles, dass sich daraus noch kein Forschungsinteresse ableiten lässt. An der dritten Variante stört mich, dass ein soziales Phänomen sich in der Regel nicht selbst herausbildet, sondern vom Beobachter konstruiert wird.

Mein Vorschlag:

'Das Phänonem, dass die Fische gegen den Strom schwimmen, kann seit einigen Jahren beobachtet werden. Warum sich die Schuppenträger dermaßen abmühen, statt sich treiben zu lassen, ist jedoch bisher kaum/gar nicht erforscht. Grund genug, in die Küche zu gehen und den Wasserhahn aufzudrehen...'

Hoffe, das hilft Dir weiter.
Dr. Natalie Struve

Re: Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

Beitrag von Dr. Natalie Struve »

Es ist ein immer wieder verbreitetes Gerücht, daß das Personalpronomen "ich" in wissenschaftlichen Texten nichts zu suchen habe. Tatsächlich ist die Benutzung zwar in einigen Fachrichtungen mehr oder weniger verpönt; eine Grundlage in den Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens gibt es aber dafür nicht. Denn unabhängig vom Streit darüber, ob Wissenschaft überhaupt neutral sein soll oder kann: Das Verklausulieren eigener Beobachtungen und Tätigkeiten und das Umformulieren in Passivkonstruktionen mindert zwar die Lesbarkeit ganz erheblich, steigert aber dadurch die (wirkliche oder vermeintliche) Objektivität überhaupt nicht. Wichtiger ist es, im eigenen Denken und entsprechend in den eigenen Ausführungen wissenschaftliche Integrität zu wahren; sich dessen bewußt zu sein, was es für methodische und überprüfbare Forschung braucht, und jederzeit offenzulegen, wie man warum vorgeht.

Dazu nochmal der Verweis auf das aktuelle Positionspapier von DHV und Fakultätentagen zur guten wissenschaftlichen Praxis:
http://www.hochschulverband.de/cms1/fil ... entage.pdf
Wissenschaft ist die Suche nach Wahrheit. Der redliche Umgang mit Daten, Fakten und geistigem Eigentum macht die Wissenschaft erst zur Wissenschaft. Die Redlichkeit in der Suche
nach Wahrheit und in der Weitergabe von wissenschaftlicher Erkenntnis bildet das Fundament
wissenschaftlichen Arbeitens. [...] Die Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens sind in allen Wissenschaftsdisziplinen gleich. Oberstes Prinzip ist die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen. Forschungsergebnisse und die ihnen zugrunde liegenden Daten müssen ebenso genau dokumentiert werden und überprüfbar sein, wie die Interpretationsleistungen und ihre Quellen. Die Bereitschaft zum konsequenten Zweifeln an eigenen Ergebnissen muss selbstverständlich bleiben. Fakten und wissenschaftliche Argumente, die die eigene Arbeitshypothese in Zweifel ziehen, dürfen nicht unterdrückt werden. [S. 1]
Originalität und Eigenständigkeit sind grundsätzlich die wichtigsten Qualitätskriterien
jeder wissenschaftlichen Arbeit. [S. 2]
In Qualifikationsarbeiten sollten stets alle (externen) Faktoren offen gelegt werden, die
aus der Sicht eines objektiven Dritten dazu geeignet sind, Zweifel am Zustandekommen eines vollständig unabhängigen wissenschaftlichen Urteils zu nähren. Sinnvoll erscheint
es auch, die Förderung eines Werkes durch Stipendien, Drittmittel oder wirtschaftliche
Vorteile kenntlich zu machen. [S. 3 f.]
Wer durch seine Darstellung den Eindruck zu erwecken versucht, von ihm vorgenommene Beobachtungen oder Versuche seien gar nicht durch ihn getätigt worden, der verhält sich also gerade nicht besonders wissenschaftlich, sondern verstößt im Gegenteil eher gegen die Anforderungen an gute Wissenschaft.

Und wer mir immer noch nicht glauben mag, der werfe einen Blick in diese hilfreichen Hinweise gerade für Doktoranden:
http://faculty.chicagobooth.edu/john.co ... riting.pdf
Use active tense. Not: “it is assumed that τ = 3”, “data were constructed as follows..”
Gee, I wonder who did that assuming and constructing? Search for “is” and “are” in the
document to root out every single passive sentence.
“I” is fine. Don’t use the royal “we” on a sole-authored paper. “I assume that τ = 3.” “I
construct the data as follows.” If it seems like too much “I,” you can often avoid the article
altogether. For example, I think it’s ok to write “Table 5 presents estimates” rather than “I
present estimates in Table 5”, though a purist might object to making a Table the subject of
a sentence. I use “we” to mean “you (the reader) and I,” and “you” for the reader. “We can
see the u-shaped coefficients in Table 5” or “You can see the u-shaped coefficients” is much
better than “The u-shaped coefficients can be seen” (passive) or “one can see the u-shaped
coefficients” (who, exactly?)
Much bad writing comes down to trying to avoid responsibility for what you’re saying.
That’s why people resort to passive sentences, “it should be noted that”, poor organization
with literature first and your idea last, and so on. Take a deep breath, and take responsibility
for what you’re writing. [S. 6 f.; Fettdruck-Hervorhebung von mir]
musicus

Re: Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

Beitrag von musicus »

Mehr gibt es dazu eigentl. nicht zu sagen. :idea: Vielleicht noch, daß du dir die Frage stellst: warum will ich überhaupt das „ich“ vermeiden? Und schon ist das erste Kapitel „Wissenschaftsreflexion“ oder so fertig. :D
SpecialGuest

Re: Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

Beitrag von SpecialGuest »

Vielen Dank für die schnelle Antwort.

DoneXY wrote:
> 'beoabchten' lässt sich so Vieles, dass sich daraus noch kein Forschungsinteresse
> ableiten lässt

Genau das versuche ich gerade: Aus einer Beobachtung, die ich immer wieder mache, ein Forschungsinteresse abzuleiten. Wenn man sein Forschungsinteresse nicht deduktiv aus der Theorie ableiten will, dann ist das doch die einzige Möglichkeit die man hat.

Auf das Beispiel bezogen: Ich bin Biologe und beobachte, dass Fische seit einiger Zeit Strom aufwärts schwimmen. Dieses Phänomen ist noch nicht erforscht und ich leite aus meiner Beobachtung ein Forschungsinteresse ab. Ist etwas falsch an dieser Herangehensweise?

Dann müsste ich doch in der Einleitung irgendwie beschreiben, was ich beobachtet habe, z.B. dass ich das nur Nachts beobachten könnte ...

Dass die Formulierung "Phänomen herausgerbildet" nicht geht leuchtet mir ein. Vielen Dank. Am Besten ist wohl "kann beobachtet werden".

Ja, das sind grundlegende Fragen. Aber ist das ein Grund sie hier nicht zu stellen?
SpecialGuest

Re: Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

Beitrag von SpecialGuest »

@ musicus & Dr. Natalie Struve: Vielen Dank für eure Anregungen. Mir ist klar, dass "ich" in wissenschaftlichen Arbeiten nicht generell verboten ist. Da ich ethnographisch und im Umfeld der Cultural Studies arbeite, um fasst die Arbeit auch einen Teil, in dem ich explizit über meine Rolle als Forschung und meine Kontext reflektiere.

Aber irgendwie sträubt sich alles in mir dagegen, meine Arbeit mit "Immer wieder beobachte ich ..." anzufangen. Sind meine Zweifel da tatsächlich unbegründet?
Dr. Natalie Struve

Re: Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

Beitrag von Dr. Natalie Struve »

SpecialGuest hat geschrieben:Aber irgendwie sträubt sich alles in mir dagegen, meine Arbeit mit "Immer wieder beobachte ich ..." anzufangen. Sind meine Zweifel da tatsächlich unbegründet?
Nein, aber vielleicht aus einem ganz anderen Grund: Dann mag doch keiner weiterlesen... Das muß anders gehen. Aber erstmal (!) schreibst Du die Einleitung für Dich, um ins Thema und Deine Bearbeitung zu finden; da ist das völlig in Ordnung. Und die endgültige Fassung der Einleitung kann man eh erst ganz am Schluß erstellen, wenn alles andere wirklich rundrum fertig ist. Dann aber wird Dir sicher was Besseres einfallen! Also: Keep calm and carry on.
musicus

Re: Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

Beitrag von musicus »

Forschungsinteresse ist das, wofür der Forscher sich interessiert. Und ja, die eigene Beobachtung ist ein wichtiger und richtiger Ausgangspunkt. Letztendlich wurzelt alle Wissenschaft in der Lebenswirklichkeit von Menschen, z.B. auch in Alltagsbeobachtungen.
DoneXY

Re: Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

Beitrag von DoneXY »

SpecialGuest hat geschrieben:Auf das Beispiel bezogen: Ich bin Biologe und beobachte, dass Fische seit einiger Zeit Strom aufwärts schwimmen. Dieses Phänomen ist noch nicht erforscht und ich leite aus meiner Beobachtung ein Forschungsinteresse ab. Ist etwas falsch an dieser Herangehensweise?
Nein. Das entspricht doch meinem Vorschlag oben, wie es meines Erachtens gemacht werden könnte.

Zum "ich" in wissenschaftlichen Texten: Mir wurde es offenbar erfolgreich ausgetrieben. Dabei empfinde ich es eigentlich nicht als No-go, da es deutlich macht, dass alle Texte einen Autor/eine Autorin haben. Allerdings vermisse ich das "ich" in Texten nicht. Mal lese ich es zwischen den Zeilen und Mal sehe ich den Schreibenden theoretisch ohnehin so sehr in einem wissenschaftlichen Paradigma verwurzelt, dass dahinter das "ich" 'verschwindet'.

Wie auch immer: Es bleibt Konvention und (davon beeinflusst) Geschmackssache.
Wierus
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Re: Die persönliche Wahrnehmung einbeziehen ohne "ich"

Beitrag von Wierus »

Nur ein kleiner Einwurf am Rande:

Du hast selbst etwas in deinem privaten Umfeld beobachtet? Na dann schildere deine Beobachtung in groben Umrissen und leite direkt über zum abstrahierenden/generalisierenden (d.h. wissenschaftlichen) Teil: "... es stellt sich daher die Frage, ob das hier geschilderte Verhalten womöglich ein weit verbreitetes und von der Forschung bisher lediglich übersehenes Element des Phänomens 'Internetnutzung' ausmacht."
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